Dateline : 6. Mai 2024 | Sommerschule EURETES "Gespaltene Gesellschaft? Deutsch-Französische Perspektiven auf Phänomene gesellschaftlicher Polarisierung seit der Frühen Neuzeit"

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Die Vorstellung, die demokratische Gesellschaft sei gespalten, ist ein starker Topos unserer Zeit. Beschworen wird er von Vielen, in Politik, Medien und auch in der Wissenschaft. Allenthalben ist zu lesen oder zu hören, unsere Gemeinwesen dividierten sich in Streit und Polemik auseinander, Unterschiede verhärteten sich, Dissens und Kompromisslosigkeit dominierten in zunehmendem Maße und unterschiedliche soziale Milieus stünden sich zunehmend in Abneigung gegenüber. Meistens beruhen solche Diagnosen auf recht einfachen Annahmen: Sie unterstellen die Existenz von zwei in sich weitgehend homogenen Gruppen, die als antagonistisch beschrieben werden: Arme und Reiche, Alte und Junge, Ostdeutsche und Westdeutsche, Klimaretter und Klimaleugner, Landbewohner und Städter, Alteingesessene und Neuzugezogene, Querdenker und Woke, Gelbwesten und (angebliche) Eliten usw. In etwas anspruchsvolleren Gesellschaftsanalysen werden mehrere solcher Kriterien zusammengenommen, um zum Beispiel aus der Korrela3on von Einkommensunterschieden, Schichtzugehörigkeit und Wohnort einen neuen Klassenkonflikt abzuleiten. Wieder andere machen die „sozialen“ Medien dafür verantwortlich, dass der Ton schriller wird und immer mehr Blasen aus Gleichgesinnten entstehen. Der grundsätzliche Befund ist jedoch überall der gleiche: Soziale Milieus verengten sich und schotteten sich gegenseitig ab. Man bleibe unter sich, pflege seine „Singularitäten“ und schaue mit Argwohn auf „die Anderen“.

So populär das Spaltungsnarrativ im Moment auch ist, es finden sich gleichzeitig viele Indizien dafür, dass es den komplexen sozialen Konstellationen nicht wirklich entspricht. Jürgen Kaube und André Kießerling diagnostizieren etwa eine regelrechte „Angstlust an der Spaltung“, die im Sinne einer self-fulfilling prophecy das vermeintliche soziale Zerrüttungspotential erst selbst produziert. Und Steffen Mau hat auf die Funktion zahlreicher „Triggerpunkte“ hingewiesen, die gesellschaftlichen Streit radikalisieren und sachliche Differenzen in emotionale Auseinandersetzungen umschlagen lassen. Gleichzeitig werde die Gesellschaft von einem breiten Grundkonsens getragen, der auch von einer reichen und lebendigen Debattenkultur nicht infrage gestellt wird. Auch in Frankreich spricht etwa Anne Chemin von der „Polarisation“ als eines „Fiebers der demokratischen Gesellschaften“. Gleichzeitig wird die Debatte von Beiträgen dominiert, die, wie Jérôme Fourquet, von einer „multiplen und geteilten Nation“ sprechen oder, wie Jean-Christophe Bailly, auf eine Fraktur zwischen den urbanen Zentren und den ländlichen Peripherien des Landes hinweisen.

Die Frage nach der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Spaltung der Gesellschaft wird in Deutschland und in Frankreich also nicht unbedingt auf die gleiche Weise verhandelt. Aus dieser Spannung heraus möchte die deutsch-französische Sommerschule einladen, den Topos der „gespalteten Gesellschaft“ selbst kritisch zu hinterfragen. Gemeinsam wollen wir darüber nachdenken, was Gesellschaft eigentlich „zusammenhält“ und wie Prozesse von Integration und Desintegration funktionieren. Zu fragen ist zudem, ob die vielen Spaltungsdiagnosen zugrunde liegende Vorstellung, die Gesellschaft sei früher stärker integriert gewesen, überhaupt stimmt. Die aktuelle Debatte lädt dazu ein, neu auf Konfigura3onen und Diskurse der Vergangenheit zu blicken und zu überlegen, wie sich solche Konfigurationen im Laufe der Zeit verändern. Dass Konflikte auch früher schon zu radikaler Polarisierung führen konnten, wie etwa im Zeitalter der Glaubensspaltung und der Religionskriege, scheint auf der Hand zu liegen. Neuere historische Forschung hat allerdings auch hier zu Nuancierungen aufgerufen. Welche Entwicklungslinien lassen sich zeichnen, wenn man sich davon verabschiedet, gesellschaftliche „Spaltung“ als ein „neues“ Phänomen zu behandeln? Wie entstehen neue soziale Milieus und welche Prozesse von Inklusion und Exklusion sind damit verbunden, zum Beispiel in der Epoche der „Auilärung“? Liegt dem Wunsch nach einem harmonischen Zusammenleben letztlich nur das romantisierende Bild einer konfliktfreien Gesellschaft zugrunde, die niemals existiert hat? Und wie passt diese Vorstellung in unsere postsäkulare Zeit? Wie verhält es sich mit den nationalen Grenzen des Gemeinwesens, spielen diese für die Vorstellung der Spaltung überhaupt noch eine Rolle? Und wie verhalten sich die Brüche innerhalb von Staaten gegenüber internationalen Konflikten gerade innerhalb von Staatenbünden wie der Europäischen Union?

Eingeladen sind fortgeschrittene Studierende, Promovierende und Postdocs (bis zu drei Jahre nach der Promotion), die ein Forschungsinteresse im oben skizzierten Themenfeld verfolgen und die an der EHESS oder der Goethe-Universität in Geschichte, Philosophie, Politik- und Sozialwissenschaften, Ethnologie, Literatur- oder Kunstgeschichte eingeschrieben sind. Die Tagung soll Raum für den Austausch über aktuelle, noch nicht abgeschlossene Forschungsprojekte bieten. Die Veranstaltung wird durch Kurzvorträge von erfahrenen Forscherinnen und Forschern gerahmt, die gleichzeitig die Diskussionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereichern. Arbeitssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch, wobei zumindest passive Kenntnisse dieser drei Sprachen vorausgesetzt werden. Um das Verständnis zu erleichtern, werden die Teilnehmer*innen gebeten, eine PowerPoint-Präsentation in einer anderen Sprache als der, in der sie selbst vortragen, vorzubereiten.

Der interdisziplinäre Workshop findet an der Goethe-Universität Frankfurt statt. Die ErstaTung der Reise- und Unterkunftskosten für die französischen Teilnehmer*innen ist vorgesehen. Für deutsche Teilnehmer*innen werden die Tagungskosten (Mahlzeiten, Kaffeepausen usw.) übernommen.

Promovierende und Postdocs werden gebeten, ihre Bewerbung bis zum 6. Mai 2024 mit einem aussagekräftigen CV und einer Beschreibung des eigenen Beitrags (ca. 300 Wörter) an die untenstehenden Mailadressen zu senden. Besonders Studierende im Master haben die Möglichkeit, ohne eigenen Beitrag an der Veranstaltung teilzunehmen. Sie werden gebeten, eine Kurzbewerbung mit einem CV und einer kurzen Begründung ihres Interesses an der Teilnahme einzusenden.

Organisation und Kontakt:

  • Prof. Dr. Mechthild Fend, Goethe-Universität Frankfurt/M., fend@kunst.uni-frankfurt.de
  • Prof. Dr. Xenia von Tippelskirch, Goethe-Universität Frankfurt/M., X.vonTippelskirch@em.uni-frankfurt.de
  • Prof. Dr. Falk Bretschneider, EHESS Paris, falk.bretschneider@ehess.fr