Antike Rhetorik kennt keine Frauen, die öffentliche Reden halten. Auch die Kirche nicht ebenso wenig wie rhetorische Lehren und Standardwerke bis ins 18. Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert hört Frauen als professionelle Sprecherinnen, seien es Frauenrechtlerinnen oder Anwältinnen vor Gericht, nicht. Erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt neben Schauspielerinnen, Ansagerinnen oder Dichterinnen auch Parlamentarierinnen, Ministerinnen, Staatsanwältinnen, und Diplomatinnen performativ wahr.
Im Bereich der öffentlichen Rede wird Geschlecht in der Verschränkung mit weiteren Machtund Herrschaftsverhältnissen reflektiert, die Frauen eine untergeordnete Rolle zuschreiben. Und doch verweisen Quellen auf eine Fülle von Situationen, in denen Frauen vor Gericht Zeugnis ablegen oder Plädoyers verfassen und halten, den Körper der Königin oder Kaiserin sprechend vertreten oder die Götter oder Herrscher anrufen, für ihre Rechte kämpfen bzw. Anspruch auf die Gestaltung des Gemeinwesens erheben. Wie können wir diese Frauen erforschen und was sagen uns ihre Redebeiträge über die soziale Konstruktion von Geschlecht in Bezug auf Sprache über die historischen Epochen hinweg?
Auch wenn Geschlechtergeschichte inzwischen ein weites Feld darstellt (s. die 54 Seiten umfassende „Women und Gender Comprehensive Reading List“ der Rutgers University) und es Arbeiten zu allen Epochen gibt (stellvertretend: Späth/Wagner-Hasel 2000; Beach 2014; Stedman/Zimmermann 2007; Blom 2000; Paulus/Silies/Wolff 2012), so hat das Augenmerk jedoch in erster Linie schreibenden Frauen gegolten (Gnüg/Möhrmann 2003), Frauen, die jenseits der „Öffentlichkeit“ agierten (Lähnemann/Schlotheuber 2023) oder Frauen, die sich indirekt, über die Männer, die sie förderten (Kate 2004) oder deren Geliebte sie waren (Lever 2006), in das öffentliche Leben einbrachten. Der feministischen Rhetorikforschung (stellvertretend: Tonger-Erk 2008) verdanken Historiker*innen grundsätzliche Überlegungen und zahlreiche Denkanstöße. Empirische Befunde in Bezug auf einen bestimmten (Zeit-)Raum oder auf der Basis von Vergleichen fehlen jedoch noch.
In zwölf Fallstudien zu sprechenden Frauen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert sollen zunächst Sprecherinnen ausgemacht und in ihren sozialen, rechtlichen und räumlichen Kontexten erfasst werden. Welche Räume waren dies und wie nahmen sie diese Räume ein? Wie sprachen Frauen bzw. wie wurden sie „gesprochen“? Wie können wir sie heute hören? Welche Informationen oder Fallstricke bergen Darstellungen (bildlicher Art oder in Schriftform) von sprechenden Frauen?
Diesen Fragen nach doing gender by speaking publicly wird die international besetzte Konferenz interepochal und mit interdisziplinärem Zugriff vom 16.-18. September 2024 am Historischen Seminar der Goethe-Universität nachgehen. Die Beiträge sollen in einem Beiheft der Historischen Zeitschrift veröffentlicht werden.
ORGANISATION: Muriel Favre, Muriel Moser-Gerber, Verena Steller