„Ce qui se passe chaque jour et qui revient chaque jour, le banal, le quotidien, l’évident, le commun, l’ordinaire, l’infra-ordinaire, le bruit de fond, l’habituel, comment en rendre compte, comment l’interroger, comment le décrire ?”
So fragte 1973 der französische Autor Georges Perec (1936–1982) und diese Fragen haben insbesondere in den Geschichts- und Sozialwissenschaften nichts an Aktualität eingebüßt. Denn das Anliegen, die (soziale) Welt zu erfassen und dabei nicht nur auf das Große zu blicken, scheinbare Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, teilen Geschichts- und Sozialwissenschaften mit dieser Form von Literatur. Die Frage danach, wie genau dies zu geschehen hat, ist dabei allerdings weniger klar. Perec hat darauf mit seinem Werk verschiedene Formen der Antwort gefunden: im Schreiben, im Film und Hörspiel.
Gemeinsam ist all diesen Formen ein bestimmter Modus: Jener der Ausschöpfung (épuisement). So begab sich Perec im Zuge seiner „épuisements des lieux parisiens“ im Jahr 1977 in die rue Vilin, jene Straße des 20. Arrondissements, in der er geboren und aufgewachsen und die sukzessive aufgelöst worden und schließlich in den Parc de Belleville aufgegangen war. Hier hatte er, Sohn polnischer Juden, seine Kindheit verbracht – bis 1943, als es seiner Mutter gelang, ihn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land zu schicken und vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu retten. Die Befreiung Frankreichs erlebte Perec als Vollwaise: Sein Vater war 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee gefallen, seine Mutter in Auschwitz ermordet worden. Jahrzehnte später macht sich der Schriftsteller an diesem nach und nach verschwindenden Ort auf die Suche nach dem Verborgenen: Nämlich dem eingangs zitierten „Untergewöhnlichen“ (l’infra-ordinaire) und den darin enthaltenen Spuren seiner Geschichte.
Der Modus des „Untergewöhnlichen“ steht im Zentrum der Tagung: Bis ins Detail zu befragen und zu verzeichnen, was sich vor uns abspielt, auch das, was uns so selbstverständlich geworden ist, dass wir uns darüber nicht einmal mehr wundern. Perec fordert dazu auf, sich selbst fremd zu werden. Das ist weder für die Geistes- noch die Sozialwissenschaften ein unbekannter Modus. Von Perec ausgehend liegt der Gedanke etwa an die Ansätze der dichten Beschreibung oder der Mikrogeschichte nahe, um nur zwei Beispiele anzuführen. Aber sind diese Methoden wirklich geeignet, das „Untergewöhnliche“ zu greifen? Was bedeutet es, der Welt und sich selbst auf diese Weise nachzuspüren, sich selbst fremd zu werden? Ist dies am Ende nur der Literatur, dem Film, dem Hörspiel, kurz: der Kunst möglich? Oder halten die Sozial- und Geisteswissenschaften Verfahrensweisen bereit, die den Perecschen Versuchen der Ausschöpfung von Vergangenheit und Gegenwart ähnlich sind? Wie gehen sie um mit Lücken, wie reflektieren sie die Materialität ihrer Empirie, ihrer Quellen und Daten oder das Verhältnis von Überliefertem und Nicht-Überliefertem? Wie gestaltet sich dabei die Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst?
Kurz: Welche Anregungen und Herausforderungen können die Sozial- und Geisteswissenschaften dem Perecsche Œuvre entnehmen? Dieser Frage wollen wir uns bei der Tagung Retracer le monde – Penser avec Perec/Der Welt nachspüren – Denken mit Perec in interdisziplinärer Perspektive widmen. Denn die Perecschen Methoden selbst sind von den Sozial- und Geisteswissenschaften bisher alles andere als ausschöpfend rezipiert worden. Dabei steigt die Bedeutung Perecs stündlich – so der deutsch-französische Übersetzer und Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte. Das gilt nicht nur für die Literatur. Im Gegenteil, nicht zuletzt mit Blick auf die von zunehmender Prekarisierung bedrohte gesellschaftliche Stellung der sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen sowie auf das gegenwärtig innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft vieldiskutierte Verhältnis von Fakten und Fiktionen wird deutlich, dass die vom Perecschen Werk aufgeworfenen Fragestellungen nichts an Aktualität eingebüßt haben. Die Tagung will vor diesem Hintergrund auch dazu aufrufen, sich in Anbetracht von Wissenschafts- und Theoriefeindlichkeit weder in die Defensive noch auf Positivismus zurückzuziehen – sondern mit der Freiheit zu spielen, die innerhalb der wissenschaftlichen Regeln liegt, sie kritisch zu nutzen. So wird die Tagung neben Interventionen von Expert:innen aus verschiedenen Fachrichtungen und Tätigkeitsfeldern zu Werk und Methodik Perecs und Diskussionen auch Gelegenheit bieten, die gewonnenen Antworten in die Praxis umzusetzen: Unter anderem mit Tonaufnahmegeräten werden wir versuchen, unserer nächsten Umgebung nachzuspüren und ihre Geschichte und Gegenwart im Untergewöhnlichen zu erfassen.
Mit Georges Perec steht dabei jemand im Mittelpunkt der Tagung, der sich auch abgesehen von seinen Kindheitserinnerungen auf besondere Weise in das deutsch-französische Verhältnis einschreibt: 1966 begegnete er dem deutsch-französischen Übersetzer Eugen Helmlé, woraus sich eine intensive künstlerische und freundschaftliche Beziehung ergab, die bis zu seinem Tod 1982 andauern sollte. Helmlé übersetzte das Perecsche Werk ins Deutsche, in enger Zusammenarbeit dieser beiden gleichsam Sprachbesessenen wurden außerdem Perecs Hörspiele vom Saarländischen Rundfunk produziert und einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Überhaupt sind der Modus und die Kunst des Übersetzens inhärenter Bestandteil der Perecschen Methoden. Höchste Zeit für eine Auseinandersetzung mit Perec qui traverse les langues – et les médias.
Eingeladen sind fortgeschrittene Studierende, Promovierende und Postdocs, die an der EHESS oder der Goethe-Universität in Geschichte, Philosophie, Politik- und Sozialwissenschaften, Ethnologie, Literaturwissenschaft oder Kunstgeschichte eingeschrieben sind und die nicht notwendig zu Perec forschen, sich aber für die aufgeworfenen Fragen interessieren und ihre Antwortvorschläge in die Tagung einbringen wollen. Die Erstattung der Kosten für Reise und Unterkunft ist nur für Angehörige der EHESS und der Goethe-Universität möglich. Interessierte anderer Universitäten sind jedoch herzlich willkommen.
Arbeitssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch, wobei zumindest passive Kenntnisse dieser drei Sprachen vorausgesetzt werden.
Allgemeine Informationen
Wer teilnehmen will, muss keinen eigenen Vortrag vorbereiten. Jedoch geht mit der Anmeldung die Einreichung einer kleinen Textarbeit einher, die für alle Teilnehmer:innen verpflichtend ist. Die Aufgabenstellung lautet folgendermaßen: Erinnere dich an einen Ort, den es nicht mehr gibt, und versuche, ihn in Worte zu fassen. Egal wie (1/2 bis 2 S.).
Tagungsort: Paris, EHESS (54, boulevard Raspail)
Das Programm beginnt am Donnerstag, den 15. Mai 2025 um 11 Uhr 30 und endet am Sonntag, den 18. Mai 2025 um 11 Uhr 30.
Die Buchung von Reise und Unterkunft muss eigenständig erfolgen. Studierenden, Promovierenden und Post-Docs der EHESS oder der Goethe-Universität werden die Reise- und Unterkunftskosten im Anschluss erstattet.
Anmeldung: Bis zum 13. April 2025 unter der folgenden Mailadresse: n.freimuth@stud.uni-frankfurt.de
Unter Angabe der folgenden Daten:
- Name, Vorname
- Status (Student:in; Doktorand:in, etc.)
- Administrative Anbindung (Fakultät, Institut)
- Postadresse
- Telefon
- Forschungsfelder
Die Textaufgabe (s.o.) muss spätestens bis zum 30. April 2025 eingereicht werden.